Montag, 23. Oktober 2017

 Liebe Frau Kezbere-Härle!

Schon lange wollte ich Ihnen ja mal schreiben, habs dann aber doch nicht übrer mich gebracht.

Zuerst noch mal kurz zur Beerdigung. Das Publikum war ja noch trauriger als erwartet.
Sie hat 40 Jahre in Riedenberg gelebt - Anzahl der Trauergäste aus Riedenberg: NULL!!
Anschließend war sie 10 Jahre im Augustinum - Anzahl der Trauergäste aus dem Augustinum: quasi auch NULL - die Dame aus dem Augustinum, die bei  der Trauerfeier war, hatte meinen Vater und Frau Gleiter im Aufzug getroffen und war nur aus der unverhüllten Neugierde über das Leben der mysteriösen Langs Informationen zu erhalten, mitgekommen (hätte sie nen Aufzug früher oder später genommen, hätte sie gar nicht mitbekommen, daß ne Trauerfeier war).
Die Trauergäste aus Sillenbuch, die da waren, waren die Mutter eines Nachbarschaftsspielkameraden (die ich auch seit über 50 Jahren nicht mehr gesehen hatte) und eine weitere ehemalige Nachbarin aus der Zeit als sie mit mir und meinem Opa in der Liliencronstr. gewohnt hatte (bei beiden Damen konnte ich mich aber beim besten Willen nicht dran erinnern, daß sie irgendeine Beziehung zu meiner Mutter gehabt hätten). Außerdem der Chef meiner KfZ-Werkstatt in Sillenbuch und dessen Mutter, die ich eingeladen hatte und die die einzigen Menschen waren, von denen ich wußte, daß sie meine Mutter  kannten.
Dazu noch 2 Büro-Faktotumme aus der Zeit meines Opas und die Aasgeier-Fraktion um die schrecklichen Zieglers.
Was für ein einsames Leben sie in ihrem Wahnsinn  geführt haben muß...

Was ich aber in erster Linie mitteilen wollte:
24 Stunden nach dem damaligen Gespräch  mit Ihnen (und wie gesagt, es war überhaupt das erstemal in meinem Leben, daß ich mit jemand über meine Mutter sprechen konnte, der sie gekannt hat und der sich Gedanken über sie gemacht hatte) waren  die  unklaren Zusammenhänge  im Leben meiner Mutter (und meinem natürlich) plötzlich  für mich deutlich zu erkennen.

Mehrere Dinge kamen da zusammen.

 - Ihre Erwähnung, daß es im Augustinum bemerkt wurde, daß sie immer sehr grell geschminkt war und schrille Kleidung getragen hatte.
Das fand ich immer schon abscheulich  für eine Verabredung mit dem eigenen Sohn, wußte natürlich nicht, wie sie sonst in der Öffentlichkeit rumlief.
Grelle Schminke und schrille Kleidung habe ich immer mit vergewaltigten Frauen assoziiert, keine Ahnung, weshalb dies so ist...hat dann auch immer gestimmt, wenn man dazu kam, nachzufragen

 - Daß ich mich ins Flachwitzeln über "Bürofeiern" geflüchtet hatte, als ich erwähnt hatte, daß ich ein "5-Monatskind" bin...Mitte der 50er lief das noch nicht so locker mit "Sex auf Bürofeiern" und sicher nicht für eine jungfräuliche Tochter aus gutem Hause....da mußte man eigentlich eh von nicht einvernehmlichen Sex ausgehen.

 - Ihre Verwunderung darüber, daß ich mit "du bisch ganz alloi schuld ameim ganze Elend" aufgewachsen bin...das war aber noch mit das Netteste, was ich mir all die Jahre anhören durfte....

 - Meine These, daß meine  Mutter deshalb völlig ausgeklinkt ist, weil mein Vater sich nicht um sie gekümmert hat und ihr keine Liebe geschenkt hat...hahaha...ja...hörte sich angesichts des Ausmaßes ihres Wahnsinns auch ziemlich albern an und war für mich gelinde gesagt auch sehr unbefriedigend...

 - Ihre Frage, ob meine Mutter denn in meiner Kindheit "heile" gewesen sei (so hatte ich zumindest ihre Frage aufgefasst). Nicht wirklich, ehrlich gesagt, da hatte sie halt noch nicht so voll am Rad gedreht, wie nach dem Umzug nach Riedenberg, da gab es auch noch eine gewisse soziale Kontrolle, Eltern im Stock drüber, Nachbarn, mit denen zumindest ihr Sohn und ihre Mutter Kontakt hatten, "Freunde"...na ja eher Bekannte... ABER...auch  da war sie schon "verletzt", sehr zurückgezogen und hat tagelang im Bett verbracht, die Lust das eigene Kind jeden Tag bis aufs Blut zu quälen kam aber erst später...


Der Werner (der echte) muß sie damals im Juni 1955 vergewaltigt haben. Als höhere Tochter (noch dazu einer bigotten katholischen Mutter) durfte man das damals natürlich niemand gegenüber erwähnen und mußte die ganze Schuld erstmal bei sich selber suchen. Und da sie schwanger war, mußte sie ihren Vergewaltiger heiraten (und ihr Leben war gelaufen). Für den Vergewaltiger gleichzeitig das große Los, da sie die Tochter des Chefs war (kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie ein verklemmtes Muttersöhnchen wie er es ohne Gewalt zu ner anständigen Frau gebracht hätte) und eigentlich der Beginn einer großen Bilderbuchkarriere (mit einer hübschen Ehefrau und einem intelligenten Sohn)

Sie mußte sich nun um den Bastard kümmern, das Produkt der Vergewaltigungsnacht (oder -tag, wir werdens wahrscheinlich nie erfahren), der Mann war nie zuhause und alle Verwandten und Nachbarn kamen ständig mit "der isch ganz der Werner" oder "ganz der Vadder", wie man früher sowas halt gesagt hat, um den Eltern eine vermeintliche Freude zu machen.
Der "echte Werner" war nie zuhause, aber am kleinen "ganz der Vadder" konnte man sich hemmungslos austoben.
Ich bin damit aufgewachsen, nicht nur an allem schuld zu sein, an was ich tatsächlich schuld war, sondern auch an ALLEM anderen Elend dieser Welt - und zwar zu 100%...es gab nix auf dieser Welt an dem ich nicht die Schuld hatte.

Zur  Vergewaltigungsthese passt dann auch noch zB:
 - nach meiner Entsorgung mußte ich, wenn ich nach Riedenberg durfte, erst mal (gefühlte) 15 Minuten unter ihrer Aufsicht meine Hände mit Kernseife waschen, anschließend mich völlig entkleiden, duschen und einen bereit gelegten Trainingsanzug anziehen. Meine Klamotten durfte ich erst zum Gehen wieder anziehen. Wohl gemerkt, ich kam immer frisch geduscht und mit frisch gewaschenen Klamotten an.
Wobei mir grade beim mühsamen Tippen auffällt, daß ich diese extreme Demütigung und Erniedrigung bis jetzt auch noch niemand erzählt habe, obwohls schon über 40 Jahre her ist und zu den Dingen gehörte die mich (fast) endgültig zerbrochen hat.

 - ganz extrem: die beiden Male, die ich meine Mutter in den Jahrzehnten vor dem Augustinum in Riedenberg allein besucht hatte.
Sie lief mit schrillster Stimme "Werner oh Werner" quäkend in Panik durch das Zimmer, offenbar nochmal DIE Szene ihres Lebens nachspielend, ich bin dann ganz schnell wieder weg und war  beide Male erst mal ein paar Tage betrunken hinterher...

Gern würd ich mich noch mal mit Ihnen unterhalten Frau Kezbere-Härle, wie gesagt Sie sind quasi die einzige, die meine Mutter gekannt hat und die sich Gedanken über sie gemacht hat. Das Schreiben hier tut sehr weh, aber es ist wohl notwendig, daß ichs mal gemacht habe.

Gruß
PETER LANG


Btw: meine zwischenzeitlich angedachte  Kurzansprache auf der Beerdigung hätte geendet mit:
"Wer mit Gewalt gezeugt wurde, konnte keine Liebe erwarten".



Sehr geehrter Herr Lang,
vielen Dank für Ihren Brief. Danke für Ihr großes Vertrauen.

Sie kannten Ihre Mutter am allerbesten. Wenn Sie meine Meinung hören möchten, würde ich Ihnen sagen, dass ich nicht richtig glauben kann, dass Sie aus einer Vergewaltigung entstanden sind. Ihre Mutter hatte in der Tat viele Eigenarten in ihrem Charakter und in ihrem Denken. Aber ich traue ihr auch viel Leidenschaft in ihren jungen Jahren zu. Man hätte sie als junges unerfahrenes Mädchen aus gutem Hause, glaube ich, leicht begeistern und mitreißen können. Das ist Ihrem Vater gelungen. Und Ihre Mutter war für einen Moment glücklich, auch wenn sie es später bereut hat. Ich glaube immer noch, dass Sie ein Kind der Liebe sind. Allerdings einer Liebe, die offensichtlich schnell verflogen war und an ihrer Stelle ein Besitz-, Macht- und Rachegedenken hinterlassen hat.

Da Sie mir so viel Vertrauen schenken, wage ich Ihnen auch einen Rat zu geben: Machen Sie aus Ihrem Leben das Beste, was Sie können. Sie haben das große Unglück gehabt,  eine unglückliche Kindheit und Jugend zu erleben. Das tut mir unendlich leid für Sie. Aber jetzt sind Sie ein reife, starke Persönlichkeit. Lassen Sie es nicht zu, dass die Vergangenheit Ihnen die Gegenwart und womöglich die Zukunft verdirbt.

Letzte Woche habe ich eine Todesnachricht erhalten – der Ehemann einer meiner Freundinnen, die ich getraut habe, ist mit 50 Jahren an Krebs verstorben. Weder Sie noch ich, noch jemand anderer weiß, wie lange er/sie  (noch) zu leben hat. Versuchen Sie Ihrem Vater diesen einen Betriebsausflug zu vergeben.  Er hat Sie lieb. Immer noch. Oder – jetzt erst recht. Das habe ich verspürt im Gespräch mit ihm.
Bei der Vergebung geht es nicht um eine Tugend für die Kirche, auch nicht um eine Handlung reiner Barmherzigkeit gegenüber einen anderen. Es geht darum, dass Sie selber frei werden von den Fesseln, die Sie immer wieder nach unten ziehen wollen.

Sagen Sie ja, zu Ihrem Leben. Sie sind ein besonderer Mensch.
In der kommenden Zeit werde ich keine Zeit haben, mit Ihnen ausführlich zu reden.
Umso wichtiger ist, dass Sie mit anderen Menschen im Kontakt bleiben, egal wie tief oder flach die Beziehungen sind. Bleiben Sie nicht alleine.

Noch einmal – herzlichen Dank für Ich Vertrauen.

Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen aus dem Augustinum –
Ilze Kezbere-Härle
#MyMotherToo